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Lernen für Noten vs. Lernen aus Interesse

Neues Schuljahr, neue Schule, neue Lehrerin. „Meine“ 5. Klasse ist in Mathe hoch motiviert, begeisterungsfähig und neugierig. Gemeinsam diskutieren wir, ob es eine größte natürliche Zahl geben kann, überlegen, wie wir den Schatz in einem Koordinatensystem finden können und verbringen viele gute Stunden miteinander.

Persönlich mag ich keine Abfragen und geben den Schülern bewusst das Gefühl, dass jede ernstgemeinte Antwort ein wertvoller Beitrag zum Unterricht ist, auch und gerade dann, wenn sie noch nicht sofort richtig ist. Die Kinder äußern sich frei und ohne Angst vor falschen Antworten. Einige Schüler und Schülerinnen haben kein besonders gutes Verhältnis zum Fach Mathematik, lassen sich aber gut einbinden und motivieren und verlieren zunehmend die Scheu.

Unsere ersten Schulwochen sind geprägt vom Lernen aus Interesse. Vom Interesse aneinander und vom gemeinsamen Interesse an der Materie. Für mich und für die Kinder sehr angenehme, interessante und erfüllte Stunden.

Der Lauf des Schuljahres bringt es mit sich, dass die „Schonfrist“ nun auch für die 5. Klasse vorbei ist und Abfragen, Stegreife und auch die ersten Schulaufgaben auf dem Plan stehen. Und seit einigen Tagen beobachte ich, dass sich das Lernverhalten der Kinder und ihr Umgang mit neuen oder als schwieriger empfundenen Inhalten verändert. Plötzlich steht da die Idee einer Beurteilung im Raum, plötzlich entsteht bei einigen Schülern die Angst, nicht gut genug zu sein und eine schlechte Note zu bekommen. Und auf einmal lernen meine Schüler nicht mehr, weil sie der Inhalt interessiert und sie sich für das Fach Mathematik begeistern lassen, sondern weil sie eine gute Note schreiben möchten. Schade, denn die Qualität des Unterrichts verändert sich damit dramatisch, und in meiner Wahrnehmung in keine positive Richtung. Die Fragen, die mir nun im Unterricht gestellt werden, zielen darauf ab, kleine Unsicherheiten zu beseitigen, um in der möglichen Bewertungssituation auch ja die richtige Antwort geben zu können und sind seltener geprägt vom Interesse mehr zu erfahren oder quer und vernetzt zu denken. Plötzlich scheint das Ergebnis, die Bewertung der nächsten Ex oder Schulaufgabe das Wichtigste zu sein.

Leider verändert sich nicht nur die Intention hinter den Schülerfragen, auch das Verhalten der Schüler hat sich innerhalb weniger Stunden verändert. Ich beobachte zunehmende innere Unruhe, Anspannung und Nervosität. Nicht nur in meiner Klasse, sondern auch in den Parallelklassen. Da Menschen Nervosität körperlich spüren und ausdrücken nimmt das Gekippel der Stühle, das unruhige Beschäftigen mit Schere, Papier, etc. während des Unterrichts aktuell deutlich zu. Kleine Sticheleien mit dem Nachbarn, um den eigenen Stress abzubauen führen zu mehr kleinen Konflikten, erhöhen die Unruhe in den Klassen und erzeugen damit noch mehr Stress. Stress, den ich als Lehrerin spüre, der sich mit meinem gefühlten Stress durch nahende Schulaufgaben und scheinbare Zeitknappheit im Lehrplan wunderbar verbindet, und mich emotional immer wieder unglaublich beeinflusst hat. Das Gefühl, gerade dann, wenn es wichtig scheint, z.B. vor einer Schulaufgabe, schwerer zu den Schülern durchdringen zu können, wichtige Informationen nicht mehr weitergeben zu können und vielleicht nicht genug mit der Klasse geübt zu haben, hat in mir lange immensen Stress ausgelöst. Erst in diesem Schuljahr erkenne ich bewusst, wie sich in dieser Phase des Schuljahres, wenn die Notengebung ihre volle Bandbreite entfaltet,  auch mein Lernfokus weg vom Lernen durch Interesse hin zum Lernen für möglichst gute Noten verschiebt.

Persönlich widerstrebt mir diese Art der „Wissensvermittlung“ absolut. Sie entspricht meiner Persönlichkeit und meinem Anspruch an meine Tätigkeit als Lehrerin in keiner Weise. Ich liebe mein Fach, ich brenne für die Mathematik, ich bin begeistert von dem, was dieses Fach logisch, strukturiert und an vielen Stellen hoch philosophisch und sehr elegant zu bieten hat. Ich diskutiere gerne mit Schülern über die Bedeutung der Unendlichkeit und über die Idee, dass sich zwei parallele Gerade in keinem Punkt, also nie schneiden oder auch nur berühren. Ich mag mathematische Abkürzungen wie die Potenzschreibweise und die clevere Anwendung von binomischen Formeln. Und diese Begeisterung möchte ich an meine Schüler weitergeben, möchte sie in ihnen wo immer möglich entfachen, Impulse geben und Interesse wecken. Darin sehe ich meine Aufgabe. Und ich bin überzeugt davon, dass Interesse und Neugier über kurz oder lang zu guten Noten führen. Vermutlich sehr viel nachhaltiger als das punktuelle Pauken für die nächste Schulaufgabe.

Darum werde ich in den nächsten Stunden mit meinen Klassen thematisieren, was der Unterschied zwischen Lernen mit Neugier, Offenheit und Interesse und dem Pauken für die nächste Schulaufgabe oder Abfrage ist. Und ich hoffe, dass wir es schaffen, in möglichst langen Phasen des Schuljahres mit Interesse und Begeisterung gemeinsam viel entdecken, entwickeln, herleiten, vernetzen und dadurch nachhaltig lernen zu können.