Pipi Langstrumpf hat einen Bruder oder das Leben mit autonomen Kindern

Pipi Langstrumpf ist eine der Figuren, die ich seit meiner Kindheit sehr mag. Stark, tapfer, unabhängig, dickköpfig, clever, selbstsicher, uneinschüchterbar, selbstständig, fantasievoll und viele andere Eigenschaften verbinde ich in meiner Vorstellung mit Pipi. Die Welt so zu machen, wie sie mir gefällt, oh ja, das hätte ich gerne getan. Nun, ich war in meiner Kindheit und Jugend keine Pipi. Ich war eher wie Pipis Freundin Annika. Und auch heute kostet es mich einige Überwindung und Anstrengung Pipi in manchen Dingen etwas ähnlicher zu werden und mich unabhängig zu machen von (überholten) Konventionen und der Meinung anderer.

Und damit stehe ich im krassen Gegensatz zu meinem Sohn, der in vielerlei Hinsicht problemlos als Pipis kleiner Bruder durchgehen könnte. Selbstbestimmung und Unabhängigkeit stehen ganz oben auf der Liste der Eigenschaften, die mein Kind schon im Windelalter auslebte. Konventionen scheinen für ihn generell nicht zu gelten, und anerkennen tut er sie nur dann, wenn sie für ihn Sinn machen. In gar keinem Fall würde er sich verbiegen, um zu einer Gruppe zu gehören oder um an einer Veranstaltung teilnehmen zu dürfen. Die unausgesprochene Ansage, die er jedem, der mit ihm zu tun hat, entgegenschickt ist „akzeptiere mich so wie ich bin, ich werde nämlich so bleiben! Auf jeden Fall aber werde ich mich nicht anpassen oder ändern!“.

Schon im Kindergartenalter hatte mein Sohn viel von der Welt begriffen und wusste mich in Diskussionen mit meinen eigenen Waffen zu schlagen. Ein Grund, warum ich mich nicht mehr auf Diskussionen einlasse, sondern sehr darauf achte, sinnvolle und authentische Grenzen zu setzten. Alles andere hätte keinen Bestand. Ähnlich wie mit Pipi kann ich mit ihm Pferde stehlen, solange wir am gleichen Strang ziehen. Er ist ein guter Ratgeber und Unterstützer wann immer Not am Mann ist, aber Dinge einfach zu tun, weil man sie so tut, dass funktioniert nicht.

Mit Abstand betrachtet hat mein Sohn viele der Eigenschaften, die ich in meiner Kindheit gerne gehabt hätte. Und nachdem ich dieses Kind nun schon seit einigen Jahren begleite, bin ich zunehmend stolz auf seine Unabhängigkeit und seine Unbestechlichkeit, aber es liegen harte Zeiten hinter uns.

Wenn eine Annika den kleinen Bruder von Pipi zur Welt bringt, rüttelt das erst mal gründlich an den Grundfesten der Mutter. Anpassung im Kindesalter ist häufig ein Weg, um mit möglichst wenig Reibung und mit maximal möglicher Anerkennung durch den Alltag zu kommen. Anerkennung für gutes (angepasstes) Verhalten, ordentliche Kleidung, leergegessene Teller, gemachte Hausaufgaben, gute schulische Leistungen und vieles mehr waren lange Bestandteil der Erziehung und sind es heute immer noch. Die Idee, von den Eltern dann die dringend benötigte emotionale Nähe und Liebe zu bekommen, wenn man brav ist und sich „richtig“ verhält, führt oft zu Einbußen der Integrität. Anpassung und Gefallenwollen werden zum Lebensstil und scheinen das emotionale Überleben zu sichern. Annika mag dann Pipi insgeheim noch bewundern, selber so leben würde sie aus Angst vor Ablehnung aber nicht.

Pipis Bruder triggert also die Überlebensmechanismen seiner Annika-Mutter. Diese glaubt nämlich, dass ihre Überlebensstrategie der Anpassung auch für ihren Sohn genau das richtige wäre. Sich für das Verhalten des eigenen Kindes zu schämen oder zu glauben, in der Erziehung völlig versagt zu haben, sind nur zwei Ausprägungen einer als existentiell empfundenen Angst. Als Mutter ist es nun logisch, jeden erdenklichen Schritt zu unternehmen, um das Kind an die eigenen Vorstellungen von richtigem Verhalten anzupassen. Belohnung, Strafe, Weinen, Flehen, Drohen, Bitten, alles ist gut, solange es zum Ziel führt. Was aber, wenn das Kind gegen all das immun ist? Wenn es bereit ist, jegliche Konsequenz wie Einsamkeit, Verweis, Ausschluss, Strafe usw. zu tragen, um sich nicht zu verbiegen? An dieser Stelle habe ich lange nicht mehr weiter gewusst und auch in Erziehungsbüchern und bei Beratungen wenig zielführende Ideen gefunden.

Bei Jesper Juul bin ich vor einiger Zeit auf den Begriff der autonomen Kinder gestoßen und finde ihn sehr treffend. Diese Kinder, die wie Pipis Geschwister wirken, wahren ihre Integrität um jeden Preis. Sie scheinen zu wissen, dass alles, was ihnen im Leben durch ihre „Rebellion“ passieren kann, nicht wirklich schlimm ist und zahlen aus unserer Sicht einen hohen Preis für ihr Verhalten. Viele von ihnen durchschauen das Spiel des Lebens in jungen Jahren tiefgründiger als mancher Erwachsene. Sie zu begleiten ist unaushaltbar anstrengend, wenn wir Eltern auf unseren Standpunkten beharren und nicht bereit sind, zu hinterfragen, was wir für richtig halten. Autonome Kinder zwingen uns regelrecht, jede Überzeugung im Kontext von Erziehung und Schule zu überdenken. Unsere Bereitschaft zu Reflexion und Veränderung ist täglich gefragt. Wenn wir zuhören und hinsehen, erinnern sie uns wieder an die Eigenschaften, die wir als Kind gerne gelebt hätten. Wenn wir es schaffen, diese in unser Leben zu integrieren, wird das Zusammenspiel mit unserem Kind leichter.

Inzwischen sehe ich die Begleitung meines Kindes als unglaubliche Chance für gemeinsames Wachstum. Meine Denkweise und mein Blick auf das Leben haben sich mit diesem Kind sehr verändert. Ich wünschte, viel mehr Erwachsene hätten diese Integrität und würden mit dem gleichen Mut für sie einstehen.

Ich bin überzeugt, dass wir bald herausfinden werden, wie wir gut mit unseren Kindern leben können ohne sie verbiegen zu wollen. Ein erster wichtiger Schritt ist in meinen Augen, ihre Stärke zu sehen und die Chance daran zu wachsen.

Haben Sie mir Ihrem Kind ähnliche Erfahrungen gemacht und sind Sie auf der Suche nach neuen Wegen für ein gutes Miteinander in der Familie? Dann freue ich mich, wenn Sie Kontakt zu mir aufnehmen!

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