Archiv für den Monat: Mai 2017

Von „Hast Du schon …“, „Musst Du nicht…“, und Selbstbestimmung

Irgendwo auf der Autobahn in Holland, Urlaubsrückreise. Eigentlich bin ich gut erholt, und doch ist meine Laune unterirdisch mies. Ich versuche jemanden über die Freisprecheinrichtung anzurufen, aber die funktioniert ausgerechnet jetzt nicht. Ich probiere mehrmals, ohne Erfolg. Mein Sohn macht einen Vorschlag zur Lösung, und ich gehe in die Luft. „Kann ich nicht endlich mal was alleine probieren? Warum meint jeder, er wüsste es besser als ich? Verdammt noch mal, ich will das alleine schaffen!“ Mein Sohn hat keinen Plan, was für eine Welle ihn da gerade wegspült, ist völlig irritiert, und ich auch. Sein nett gemeinter Vorschlag hat in mir eine emotionale Lawine ausgelöst und ihn mit fortgerissen. Es braucht einige Zeit des Schweigens, bevor ich die Klärung dieser Situation initiieren kann.

In den Wochen nach diesem Erlebnis begegnen mir in meinem Umfeld wiederholt ähnliche Situationen, die zum Glück nicht mehr die gleiche emotionale Wucht haben, mir aber deutlich machen, worum es hier geht: Um Selbstbestimmung.

Die Emotionen, die meinen Sohn so heftig getroffen haben, sind alt und stammen aus Kindheitstagen. Der Wunsch nach Autonomie ist uns genauso in die Wiege gelegt, wie der Wunsch nach Zugehörigkeit. Für Eltern immer eine Gratwanderung, denn Kinder wollen vieles selber machen, können es in unseren Augen aber oft (noch) nicht. Oder noch nicht schnell genug, oder noch nicht gut genug, oder oder…. Es gibt viele Gründe, warum wir meinen, Kindern (zum Teil ungefragt) helfen zu wollen oder Dinge für sie erledigen zu müssen. Zeit und die Angst vor Chaos sind wohl zwei wichtige Beweggründe, die uns häufig daran hindern, unsere Kinder noch selbstständiger werden zu lassen.

Und dann gibt es da noch einen anderen wichtigen Punkt, der uns treibt, unsere Kinder nicht alleine bestimmen oder alleine probieren zu lassen, und das ist die Idee, dass sie viele Dinge ohne uns gar nicht erst erledigen oder schaffen würden. Die Idee, dass es unserer Kontrolle bedarf, damit das Kind tut, was es tun soll. Dinge des Alltags, die wir häufig als Pflichten deklarieren, wie zum Beispiel Hausaufgaben, Zähneputzen, das Zimmer aufräumen, den Müller wegbringen, morgens pünktlich aufstehen, etc. Würden unsere Kinder all dies tun, ohne, dass wir sie dazu drängen?

Wenn ich meinen Gefühlen nachgehe, dann stelle ich fest, dass meine Eltern mich in der Kindheit in vielen Dingen haben sehr selbstständig werden lassen, und dass sie gleichzeitig, wie wohl fast alle Eltern, in manchen Dingen immer wieder nachgehakt haben, ob ich sie erledigt habe. Das war gut gemeint, und ich selber mache das seit Jahren so mit meinen Kindern, aber es hat Spuren hinterlassen. Wiederholte Nachfrage und das ständige Anhalten zum Erledigen der Pflichten engen ein, geben ein Gefühl von Unvermögen, Unzulänglichkeit und Unzuverlässigkeit und mindern die Entwicklung der Eigenverantwortung.

Alltägliche Fragen wie: „Hast Du Deine Zähne geputzt? Ist das Zimmer aufgeräumt? Hast Du die Vokabeln gelernt? Ist Dein Fahrrad in der Garage? Musst Du nicht noch Geige üben?“ gehören wohl zum Leben in Familien dazu, und diese List ließe sich beliebig erweitern. Wir Eltern empfinden sie als notwendig und normal. Doch wie würde es uns als Erwachsener gehen, wenn unser Mann oder unsere Frau uns täglich fragen würden, ob wir all unsere Pflichten erledigt hätten, ob wir pünktlich in der Arbeit gewesen wären, ob wir uns dort gut verhalten hätten, ob wir den Müll rausgebracht und die Spülmaschine ausgeräumt hätten, ob wir für den morgigen Tag vorbereitet wären und unseren Schreibtisch aufgeräumt hätten? Wenn Sie ähnlich gestrickt sind wie ich, würden Sie diese Fragerei gepaart mit einem Hinweis auf Ihr Alter schnell unterbinden, oder? Und ich glaube, dass es unseren Kindern in mancher Hinsicht genauso geht, wenn wir Eltern wie eine kaputte Schallplatte immer wieder mit der gleichen Litanei an Fragen daherkommen.

Es meiner Sicht bedeutet Elternsein auch, dass wir immer wieder neu abwägen müssen, in welchen Dingen unser Kind wirklich Hilfe braucht und in welchen nicht, wozu wir unsere Kinder wirklich drängen müssen und wozu nicht. Vielleicht ist es sogar so, dass unsere Kinder die von uns benannten Pflichten gar nicht als solche empfinden würden, wenn wir sie nicht so stark einfordern und kontrollieren würden. Denn ganz ehrlich, den Müll zu entsorgen empfand ich als Kind als blöde Pflicht. Heute finde ich es manchmal lästig, aber ich freue mich immer über einen leeren Mülleimer. Genauso mag ich den Geruch von frischer Wäsche, das gute Gefühl, das mir eine saubere Wohnung gibt, die Freude über einen aufgeräumten Schreibtisch und vieles mehr. Meine Zähne putze ich mir nicht nur, weil es gut für die Zähne ist, sondern, weil ich das Gefühl frisch geputzter Zähen mag! Und ich komme gerne pünktlich zur Arbeit, zu Terminen und Verabredungen, weil es für mich entspannter ist, und ich es als respektvoll empfinde. Ich muss mich dazu nicht zwingen, und es bedarf keiner Kontrolle.

Es lohnt sich, die alltägliche Routine zu hinterfragen und neu zu beurteilen, wo und wann unsere Kinder wirklich Unterstützung und Kontrolle brauchen, und wo sie sehr gut alleine zurechtkommen. Ich zumindest bin gespannt, wie viele der „Hast Du schon…?“ Fragen ich mir jeden Tag sparen kann.

Und übrigens: Natürlich kann und weiß ich einiges besser als meine Kinder, ich bin ja auch die Ältere. Aber ich weiß auch, dass Menschen ihre eigenen, manchmal auch unschönen, Erfahrungen machen müssen, um sich zu entwickeln. Und auch hier gilt es mit gesundem Menschenverstand abzuwägen und zu überlegen, wie wir unsere Kinder täglich bestmöglich begleiten können.