Halte durch Mama!

Nikolaus, 8:20 Uhr morgens und außer dem Hund und mir ist keiner mehr zu Hause. Ich spüre Ruhe, Stille und große Erschöpfung. Zum Glück habe ich vor 10 Uhr keine eigenen Termine und kann mir Zeit nehmen zum Verarbeiten und Schreiben. Was besonders ist an diesem Morgen? Die Ruhe hier zu Hause. Seit Wochen ist dies einer der wenigen Tage, an dem all unsere Kinder ohne Probleme, recht gut gelaunt und pünktlich den Weg in die Schule gefunden haben. Puh.
Was in anderen Familien ganz normal ist, ist für uns eine Besonderheit, denn unsere Kinder tun sich aus vielschichtigen und sehr unterschiedlichen Gründen schwer, regelmäßig in die Schule zu gehen. Für uns Eltern eine tägliche Gradwanderung und ein Kraftakt, der seine Spuren hinterlässt. Bisher habe ich nur eine Familie kennengelernt, die eine ähnliche Situation durchlebt hat. Bei den meisten anderen scheint der tägliche Schulbesucht einfach zur Normalität zu gehören. Viele schütteln nur den Kopf, wenn sie hören, wie es „bei uns zugeht“, zeigen Unverständnis, wie es sein kann, dass man seine Kinder nicht einfach „in die Schule schicken kann“. Einige sind heilfroh, dass es bei Ihnen „rundläuft“ und andere geben Kraft und Unterstützung, einfach, weil sie da sind und ohne zu urteilen zuhören. Niemand, der nicht in vergleichbarer Situation war, wird wirklich erfassen können, welche Belastung es für die Familie bedeutet, wenn ihre Kinder nicht „systemkonform“ sind und sich so verhalten, wie es „erwartet“ wird.
Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich für mich verstanden habe, was ich möchte und was nicht. Auch ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der Kinder zwar langsam mehr Raum und Freiheit bekamen, aber Gehorsam den Erwachsenen gegenüber und ein gewisses Unverständnis für kindliche Bedürfnisse an der Tagesordnung waren. Mich anzupassen an die Welt, die ich als Kind vorgefunden habe, und recht reibungslos zu funktionieren war meine unterbewusste Entscheidung. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, aus dem Rahmen zu fallen, außerhalb von zu Hause frech und respektlos aufzutreten oder meine Pflichten nicht zu erfüllen. Schon alleine aus Angst vor möglichen unangenehmen Konsequenzen wären das für mich keine Optionen gewesen.
Tja, und nun fallen meine Kinder „unangenehm“ auf, fügen sich nicht so, wie ich es damals gemacht habe und haben dadurch einen großen Berg Sorgen und Ängste in mir angestoßen, mit denen ich mich in den letzten Monaten und Jahren auseinander setzten musste. Mein Weltbild und besonders mein Blick auf meine Kinder und auf Kindheit im Allgemeinen haben sich vollständig geändert. Erst nach und nach ist mir klar geworden, wie sehr unser Umgang mit Kindern (und Erziehung ist nichts anderes, als die Art und Weise, wie wir mit unseren Kindern im Alltag umgehen) immer noch geprägt ist, von der Idee, dass Kinder gelenkt, gesteuert, kontrolliert, begrenzt und beobachtet werden müssten, damit sie später im Leben Erfolg haben, damit sie wertvolle Mitglieder unserer Gemeinschaft werden können, usw. Es ist in unseren Köpfen und Herzen noch nicht angekommen, dass wir schon lange keine kleinen Soldaten mehr erziehen müssen, und dass Kinder sich nicht zu Tyrannen entwickeln, nur weil wir auf ihre Bedürfnisse eingehen und sie ernstnehmen. Es braucht vermutlich noch Zeit, bis wir „Großen“ uns erinnern, wie kooperative wir als Kinder waren, einfach so, auch ohne, dass wir immer gleich Konsequenzen für mögliches Fehlverhalten oder Versagen aufgezeigt bekamen. Vielleicht braucht es auch noch Zeit, bis wir unseren Kindern aus vollem Herzen zutrauen, dass sie ihr Leben meistern werden, auch ohne unsere ständige Kontrolle und ohne diese vermutlich sogar viel leichter.
Für mich ist inzwischen ganz klar, dass viele der Grundannahmen, die im Umgang mit Kindern noch immer fest in unseren Köpfen verankert sind, mehr Schaden als Nutzen nach sich ziehen. Aus meiner Sicht sind Kinder von Natur aus hoch kooperativ, wollen sich in ihre Familie und jede andere Gemeinschaft, der sie angehören, einbringen, ihren Teil zum Gelingen beitragen und nützlich sein. Wie schnell fangen wir Erwachsene an, ihnen das abzugewöhnen, weil es schneller geht, wenn wir es selber machen, weil wir mehr Erfahrung haben, weil wir es besser können, weil etwas kaputt gehen könnte, wenn das Kind unvorsichtig ist. Wie selten beziehen wir die Kinder wirklich auf Augenhöhe mit ein und bitten um ihre Unterstützung oder gar Meinung. Wie häufig glauben wir als Eltern, Erzieher und Lehrer zu wissen, was für dieses Kind das Beste ist, ohne mit dem betroffenen Kind überhaupt gesprochen zu haben und ohne seine Situation auch nur im Ansatz zu verstehen. Nur weil wir älter und erfahrener sind, heißt das nicht, dass wir es besser wissen, wir haben nur mehr Überblick. Und den sollten wir nutzen, um unsere Kinder liebevoll zu begleiten, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen im Leben machen und für sich herausfinden, wer sie sind und welchen Weg sie einschlagen wollen. Sie werden so oder so versuchen, es uns recht zu machen, denn alle Kinder lieben ihre Eltern und sind ihnen gegenüber sehr loyal. Unseren Kindern vertrauensvoll den Rücken zu stärken und ihnen hilfsbereit auch dann zur Seite zu stehen, wenn wir es natürlich besser wussten, ist eine wichtige Aufgabe von uns Eltern. Unser Vertrauen in unsere Kinder macht sie stark. Und wenn wir sie sein lassen, wer immer sie sein wollen, dann können sie sich frei entfalten.
9:15 Uhr, immer noch Ruhe. Ich muss mich gerade wieder einmal frei machen von Selbstvorwürfen, denn natürlich wäre es für meine Kinder vermutlich leichter gewesen, hätte ich schon vor 16 Jahren so über Kinder und Erziehung gedacht. Vielleicht wäre dann auch ihre schulische Situation nicht so schwierig geworden, weil ich ihnen von Anfang an mehr Vertrauen entgegengebracht hätte. Aber genau anders herum wir wohl ein Schuh draus. Ohne meine Kinder und all die massiven Hindernisse, auf die ich gemeinsam mit ihnen in den letzten Jahren gestoßen bin, wäre ich wohl heute nicht die, die ich bin. Meine Kinder haben meine Welt verändert, innerlich wie äußerlich. Und so traue ich ihnen und uns zu, dass wir den eingeschlagenen Weg gemeinsam gut weitergehen und sie, vorerst noch mit uns Eltern gemeinsam, gute Lösungen für ihr Leben finden werden.
In der Zwischenzeit halte ich durch, kümmere mich um mich und meine Familie, damit wir aushalten und verändern können, was uns im Alltag begegnet und genieße die Ruhe an diesen Tagen, die einfach mal „rund laufen“.

3 Gedanken zu „Halte durch Mama!

  1. So klug und wahr. Werde versuchen, mich daran zu erinnern, wenn ich das nächste Mal mal wieder alles besser weiß, schon vor einer halben Stunde gesagt habe, dass gleich was kaputt geht, oder sauer werde, weil meine Kinder andere Vorstellungen zum Sonntagsprogramm haben als ich!

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