Vom Über-Leben zum Leben – der Luxus in meinem Leben

Earth day

Mein freies Wochenende! Bis auf den Hund sind alle verreist, mein Mann ist mit den Kindern bei seinen Eltern, und ich bin allein zu Hause! Über 50 Stunden, die nur mir gehören. Ganz bewusst bin ich „planlos“ in diese Tage gegangen, damit ich mich treiben lassen kann, mich dahin ziehen lassen kann, wohin es mich zieht. Und es zieht mich mit Macht an den Computer – schreiben, nichts anderes kommt mir gerade in den Sinn. Und so schreibe ich, worüber ich beim ausgiebigen Spaziergang mit dem Hund heute Vormittag nachgedacht habe, über das, was ich in meinem Leben als wahren Luxus empfinde.

Seit mehr als zwei Jahren bin ich nun schon dabei, die Dinge in meinem Leben anzuschauen, die Reibung in mir erzeugen. Wut und Aggressionen waren die Ausgangslage. Viel Geschrei im Familienalltag und große Unzufriedenheit haben mich dazu gebracht, die ersten kinesiologischen Sitzungen zu nehmen. Bis heute tritt nach jeder Sitzung Erleichterung ein, sind für mich mal kleine, mal große und mal bahnbrechende Fortschritte fühlbar und sichtbar. In diesen Sitzungen tauchen immer wieder Themen aus meiner eigenen Kindheit und aus den Generationen auf, so dass ich mich zunehmend mehr für meine „Geschichte“ interessiere, für das Leben der Generationen vor mir und dafür, welchen Einfluss es auf mein Leben und auf das Leben meiner heutigen Familie hat.

Da mein Großvater als einzig lebender Vertreter meiner Großelterngeneration inzwischen 92 Jahre alt ist, bin ich froh und dankbar für alles, was ich von ihm aus „erster Hand“ über sein Leben und das Leben der Generationen vor ihm erfahren kann. Und so sind mein Opa, meine Mutter und ich letzte Woche bei einem Besuch bei meinen Eltern in die Vergangenheit „abgetaucht“. Wir haben gemeinsam das Fotoalbum meiner Großmutter angeschaut und lange über die Familie der Mutter meines Großvaters gesprochen. Auch vom Tod von Opas Vaters während er an der Front war, und dass mein Großvater nichts fühlen konnte, als sein Vater starb. Ich sah Tränen in seinen Augen und begann ganz langsam zu begreifen, wie stark mein Großvater sich von seinen Emotionen abkoppeln musste, um den Krieg und die Zeit danach überleben zu können. Ich spürte die Zerrissenheit in ihm und die vielen nicht verarbeiteten schrecklichen Dinge, die er erlebt hat und/oder an denen er beteiligt war.

In meinem Kopf fügen sich Puzzleteile aneinander, ich beginne Zusammenhänge zu fühlen und zu begreifen. Emotionale Distanz und vermisste Liebe werden sichtbar, finden sich an vielen Stellen wieder. Verzweiflung, Überlebenswille und das in Kauf nehmen von Risiken, um zu überleben, zeigen sich. Obwohl wir in diesem Gespräch die Zeit des Kriegs nicht vertiefen, finde ich viele Informationen darüber in einem Buch, das die Schwester meines Opas geschrieben hat, und in dem sie ihr Leben und ihre Sicht auf die Zeit des 2. Weltkriegs und danach beschreibt. Beim Lesen habe ich auf einer sehr tiefen Ebene gefühlt und verstanden, wie sehr das bloße Überleben in dieser Zeit im Vordergrund stand. Einfach nur überleben.

Während ich mit dem Hund durch den sonnigen, kühlen Wald spaziere, wirken die Gespräche und das Buch in mir nach, und mir wird zutiefst bewusst, wie gut ich es habe. Und ja, ich bin sehr, sehr dankbar dafür!

Und dabei habe ich als Kind diesen Spruch immer gehasst: „Guck doch, wie gut Du es hast….“. Ich weiß nicht mehr, wer ihn gesagt hat, vermutlich mein anderer Großvater. Natürlich hatte ich es deutlich besser als er. Der Spruch kam aber immer dann, wenn es mir emotional gerade nicht berauschend ging, weil etwas nicht so lief, wie ich es mir vorgestellt hatte. Gemeint war mit dem Spruch nämlich: „Du hast keinen Grund Dich zu beschweren (zu motzen), Dir geht es viel besser als es uns ging.“ Gepaart mit dem Vorwurf der Undankbarkeit. Emotionale „Notstände“ eines Kindes zählten nicht.

Und hier finde ich für mich den wahren Luxus in meinem Leben. Neben dem sicheren Dach über dem Kopf, der im Winter gemütlich geheizten Wohnung, dem vollen Kühlschrank, … und vielem mehr, was für mich immer Normalität war, sehe ich den wahren Luxus darin, dass ich die Zeit und die Mittel habe, mich um mich zu kümmern. Wenn ich sehe, wie viel unverarbeitete traumatische Erlebnisse mein Großvater immer noch mit sich herumträgt, dann bin ich froh, dass es für mich Mittel und Wege gibt, mit emotionalem Ballast umzugehen und ihn aufzulösen. Mussten viele Menschen der Generationen vor mir ihre Emotionen unterdrücken und traumatische Erlebnisse verdrängen, um den Alltag bewältigen zu können und um zu überleben, kann ich hinschauen, kann Lösungen finden, damit ich mich besser fühle. Mich gut fühlen, mich um meine emotionalen Bedürfnisse kümmern, die emotionalen Bedürfnisse meiner Kinder sehen und ernstnehmen, das ist für mich wahrer Luxus. Wir haben die Möglichkeit, alte Wunden und Traumen im Familiensystem zu erkennen und zu heilen, und damit das Leben noch lebenswerter und leichter zu machen. In Familienaufstellungen habe ich mehrfach erfahren, wie die Vergangenheit auf die Lebenden wirkt und welch tiefgehende Heilung möglich ist. Wir haben die Mittel, die Zeit und die Möglichkeiten zu beenden, was über Generationen wirkte, damit wir und unsere Kinder davon unbelastet leben können. Muster, die sich in Familien wiederholen, können erkannt und durchbrochen werden.

Es ist nicht mehr notwendig, zu funktionieren, um zu überleben, und trotzdem gibt es noch viele Menschen, die schlicht funktionieren. Die ihre Emotionen mit Arbeit überdecken und meinen, sie müssten wie der Hamster im Rad immer weiter rennen. Neben anderen Verdrängungsweisen, wie z.B. Süchten, ist dies wohl die akzeptierteste und häufigste. Immer weiter machen, um nicht hinschauen zu müssen, wie es „innen“ aussieht, schlechte Gefühle und emotionale Schmerzen mit Arbeit und Routine betäuben. Wir haben den Luxus der Wahl, jeder einzelne. Wir können uns betäuben, wenn es uns nicht gut geht, oder wir können für uns sorgen, damit es uns besser geht. Wir können Mitgefühl für uns selbst entwickeln und auf uns achten, wir müssen nicht mehr schlicht über-leben, wir können leben – mit Freude! Ich bin zu tiefst überzeugt, dass Menschen, die mit sich selber mitfühlend umgehen, die auf ihre eigenen Bedürfnisse achten und für sich sorgen, automatisch mitfühlender mit ihren Mitmenschen umgehen und auch auf deren Bedürfnisse mehr Rücksicht nehmen. Und so entspannt sich mitunter auch das Familienleben :-).

Ich für meinen Teil bin sehr froh, aus dem Hamsterrad ausgestiegen zu sein und inzwischen wirksamere Methoden als Arbeit oder Essen zu kennen, die mir helfen, mit negativen Emotionen umzugehen. Sprüche wie „stell Dich nicht so an“, „das wird schon wieder“, „es muss ja“ gehören nicht mehr zu meinem Leben. Und so kann ich Emotionen immer besser wahrnehmen und zulassen, die schönen und die anstrengenden, denn ich weiß, dass ich damit umgehen kann. Welch ein Luxus im Vergleich zum Leben meiner Großelterngeneration!

So, der nächste Spaziergang mit dem Hund steht an. Die Sonne scheint, auf geht´s!

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